Man hört oft den Vorwurf, dass Krankenhäuser in Deutschland viel zu lange behandeln. Selbst Patienten mit infausten Diagnosen, heißt es, würden noch operiert, damit Geld in die Kasse kommt. Werden Sie mit diesem Vorwurf konfrontiert, etwa durch Angehörige?
Lisa Klein-Weber: Auf der onkologischen Station erleben wir das nicht. Das liegt daran, dass ethische Fragestellungen hier von allen Beteiligten sehr ernst genommen werden. Seit fast 20 Jahren schon gibt es hier einen Ethik-Arbeitskreis und seit knapp 10 Jahren eine Ethikvisite, bei der genau die vorhin angesprochenen Grenzfälle besprochen werden. Auf anderen Intensivstationen oder in anderen Krankenhäusern habe ich das schon ganz anders erlebt. Da steht in der Akutsituation allein das Medizinische isoliert im Vordergrund. Da wird auch eine 96-Jährige noch dreimal wiederbelebt, ohne dass jemand die Frage stellt, ob die Patientin das gewollt hätte, oder ob nicht eine Patientenverfügung vorliegt, in der zu diesem Thema etwas steht. In solchen Situationen eine ethische Fragestellung ins Spiel zu bringen, verlangt von uns Seelsorgern einiges an Kenntnis, Sensibilität und gegebenenfalls Widerstandkraft, da sind wir auch mal Sand im Getriebe.
Jochen Wolff: Es hängt auch sehr viel vom Selbstverständnis der Ärzte auf einer Intensivstation ab. Chirurgen verstehen den Tod häufig als Niederlage. Da wird alles dafür getan, dass der Patient überlebt, in welchem Zustand auch immer. In anderen Bereichen sind die Ärzte schon eher bereit, die Frage nach der Sinnhaftigkeit einer Behandlung im Blick auf die Gesamtsituation des Patienten in ein Therapiekonzept miteinzubeziehen. So stellt man sich am Lebensende oftmals die Frage, ob der Sterbeprozess durch die Gabe von Sauerstoff sowie Herz und Kreislauf unterstützenden Medikamenten über Gebühr verlängert wird. Aber auch da gibt es kein einfaches Richtig oder Falsch. Denn manchmal kann es durchaus sinnvoll sein, den Tod eines Menschen noch ein wenig hinauszuzögern, etwa weil Angehörige sich noch etwas Zeit wünschen, um Abschied zu nehmen. Solche Fragen klären wir auf unserer Station in der Ethikvisite.